17 aus 49: Gewinnzahlen für Leipzig
von Simone Liss | 11.02.2022
von Simone Liss | 14.03.2022
Wer kann sich das vorstellen: ein Leben ohne fließendes Wasser, ohne elektrischen Strom, ohne Bus und Bahn? 1835 ist dies in Leipzig noch Realität: Der Geruch von dampfendem Pferdemist liegt über der Stadt, ein Dunst von Kohlefeuern und Öl wabert zwischen den Gassen und Straßen.
Einladung zur STIGA.
Baden und Waschen wiederum gestaltet sich umständlich in Badehäusern und Waschzubern. Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ändert sich vieles – und dann noch einmal rasant zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In diesem Prozess formen sich auch Leipzigs Lebensadern neu: Energie, Wasser und Mobilität. Die Sächsisch Thüringische Industrie und Gewerbeausstellung (STIGA) ist ein Symbol dieser Zeit. 1897 zeigten schlaue Köpfe und fleißige Hände was alles geht, um Lebensqualität in eine wachsende Stadt zu bringen.
Leipzigs Gastwirte und Hoteliers hatten 1893 die Idee, eine internationale Weltausstellung in Leipzig zu organisieren. Ein Ereignis mit großer Ausstrahlungskraft für die alte Handels- und aufstrebende Industriestadt Leipzig sollte es werden. An den Erfolg glaubte die damalige Handelskammer noch nicht – ein Irrtum, wie sich später herausstellte. Man einigte sich auf das Jahr 1897 – das 400-jährige Jubiläumsjahr der kaiserlichen Verleihung des Messeprivilegs an Leipzig. König Albert von Sachsen (1828-1902) übernahm die Schirmherrschaft und die Deutsche Kreditanstalt sowie die Leipziger Bank die Finanzierung. Als das Ausstellungsgelände zwischen Scheibenholz und Johannapark nach drei Jahren Bauzeit fertiggestellt wurde, war ein eigener Stadtteil mit Verwaltung, Postamt, Feuer-, Polizei- und Sanitätswachen, Güterbahnhof, elektrischer Rundbahn und Stromkraftwerk entstanden. Das Spektakel konnte beginnen. Am 24. April öffnete die bis dahin größte sächsische Industrie- und Gewerbeausstellung unter dem Protektorat der Königsfamilie ihre Tore.
Eine illuminierte Fontäne, beleuchtete Pavillonfassaden, eine elektrische Rundbahn, Trinkwasseranschlüsse für die Gastronomie: Die STIGA war 1897 auch eine Leistungsschau des Städtischen Elektrizitätswerks, der Straßenbahngesellschaften und Wasserwerke. Moderne Gasleuchten, Gasmessgeräte, Dampfkessel, Abgasanlagen, der Querschnitt einer städtischen Straße mitsamt ihren unterirdischen Einlagen – viel wurde dargeboten. Die damals noch jungen Unternehmen – 1895 wurden das erste Städtische Elektrizitätswerk und die Aktiengesellschaften für elektrischen Straßenbahnbetrieb gegründet, acht Jahre zuvor, 1887, hatte das Wasserwerk Naunhof 1 die Versorgung Leipzigs übernommen – präsentierten sich auf dem STIGA-Gelände von ihrer innovativsten Seite. Oberbürgermeister Otto Robert Georgi (1831-1918) stellte extra eine Halle für Gas und Wasser. Die Konkurrenz staunte nicht schlecht. Immerhin waren 384 Aussteller aus dem Maschinen- und Transportwesen sowie 144 Aussteller aus dem Bereich Elektrotechnik in Leipzig vertreten.
Zur Erfolgsgeschichte der Leipziger Gruppe, wie wir sie heute kennen, gehört auch die Erwähnung der STIGA. Was mehr als zwei Millionen Menschen damals zu sehen bekamen, sprengte den Rahmen des Vorstellbaren. Für den Schriftsteller Julius R. Haarhaus hinterließ die Ausstellung auch deshalb einen bleibenden Eindruck, weil sie die Leipziger zu Großstädtern befördert, den Geschmack gebildet und die Ansprüche gesteigert hätte. Leipzig war 1897 auf dem Weg zu einer Millionenmetropole, auf dem Weg von einer Provinzstadt zu einer Weltstadt. Leipzig hatte damals 400.000 Einwohner und war die viertgrößte Stadt des Deutschen Reichs. Eine Entwicklung, die die Versorgungsunternehmen der Stadt maßgeblich mitbestimmt haben. Sie brachten Lebensqualität in die wachsende Stadt. Ein Grund mehr, 2022 daran zu erinnern: Die Leipziger Verkehrsbetriebe feiern im Mai – während der Tram-EM – 150 Jahre Straßenbahn in Leipzig, die Leipziger Wasserwerke im Frühjahr 135 Jahre Wasserwerk Naunhof 1 und die Leipziger Stadtwerke im Sommer ihren 30.
Dr. Enrico Hochmuth-Ruge
„Die STIGA hat damals gezeigt, wie eine moderne, funktionsfähige Großstadt funktioniert und wie technische Innovationen Alltag und Wissen aller Bevölkerungsschichten positiv beeinflussen“, sagt der Kulturwissenschaftler Dr. Enrico Hochmuth-Ruge, der an der HTWK Leipzig lehrt und sich seit Anfang der 1990er Jahre mit der Industriekultur in Sachsen beschäftigt. „Die STIGA ist auch die Geburtsstunde des Jugendstils, des Industriedesigns, der Produktgestaltung, von Gütesiegeln, Imagepflege, modernem Marketing und Markenbildung. Damals kam quasi das Branding in Gang.“ Dem Bildungsgedanken der STIGA von 1897 trägt die Stadt Leipzig 2022 Rechnung und erinnert im Rahmen ihres Themenjahres „Freiraum für Bildung“ an die fulminante Ausstellung vor 125 Jahren. Eine von Studierenden der HTWK konzipierte Ausstellung zur STIGA wird ab 23. März im Bibliotheksbau der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) in der Gustav-Freytag-Straße 40 den Auftakt bilden. Zudem wird es eine Ausstellung im Kunstkraftwerk sowie eine Stadtarchiv-Broschur (analog und digital) mit Originaldokumenten von 1897 geben. „Im Rahmen des Themenjahres der Stadt Leipzig ,Freiraum für Bildung‘ spielt die Erinnerung an die STIGA eine wichtige Rolle. Ein scheinbar vergessenes, aber doch so wichtiges Ereignis unserer Stadtgeschichte schafft mit zahlreichen Projekten zur STIGA Erlebnis- und Diskursräume, um Fragen der Stadtentwicklung, künstlerischer Entwicklung, Postkolonialismus oder wirtschaftlichen Veränderungen zu diskutieren. Lassen Sie sich dazu einladen“, so Leipzigs Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke.
Historische Postkarte vom Pavillon der Leipziger Kofferfabrik Moritz Mädler auf der STIGA.
Die Leipziger Gruppe mit ihren Unternehmen Leipziger Stadtwerke, Verkehrsbetriebe und Wasserwerke hat ihre Wurzeln in dieser Zeit der Industrialisierung und Urbanisierung. Neue Technologien erschließen Grundwasservorkommen, Maschinenkraft erleichtert Förderung und Filterung. Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts entstehen Leipzigs Großwasserwerke im Muldetal – ingenieurtechnische Meisterleistungen. Bis heute versorgen die Wasserwerke in Naunhof, Canitz und Thallwitz den Großraum Leipzig mit Trinkwasser. Und auch das Klärwerk im Rosental blickt auf eine mehr als 125-jährige Geschichte zurück. Es ist heute Garant für Lebensqualität, Hygiene und Gewässerschutz und aus der urbanen Stadt nicht wegzudenken. Ebenso wie der öffentliche Personennahverkehr.
Leipzigs erste Omnibuslinie wird 1860 gestartet und ein Jahr später in die Leipziger Omnibusgesellschaft umgewandelt. Damit beginnt eine Entwicklung, die zunächst über konkurrierende Pferde-Omnibus-Unternehmen zu den ersten Pferdestraßenbahnen führt. 1895 gründen sich zwei Aktiengesellschaften für elektrischen Straßenbahnbetrieb. Heute sind die Leipziger Verkehrsbetriebe der moderne Mobilitätsdienstleister vor Ort. Seine Straßenbahnen fahren mit Ökostrom. Und mit Leipzig Mobil vernetzt er multimodale Angebote bis hin zum Rad und Sharing-Fahrzeug per zeitgemäßer App. „Es gibt in Leipzig Firmen, die damals Aussteller waren und heute noch existieren. Sie sollen erzählen, was in den vergangenen Jahrzehnten mit ihnen passiert ist und welche Gründe es gibt, dass sie heute noch existieren“, sagt Tobias Kobe, Referent im Kulturdezernat. Das wird spannend – auch, weil Firmen seit der Corona-Pandemie im Umbruch sind. Darunter auch die Leipziger Gruppe sowie die Industrie- und Handelskammer zu Leipzig, die das Themenjahr „Freiraum für Bildung“ unterstützen.