Leipziger Karrierewege – vom Straßenbahnfahrer zum Doktor
von Simone Liss | 11.10.2022
von Simone Liss | 27.05.2024
Die Linie 4 gibt's doppelt – zum Einsteigen und Mitfahren und in einer künstlich erzeugten, digitalen Welt – als computergeneriertes Abbild der Realität. Wir haben es ausprobiert und gestaunt.
Augen auf im Straßenverkehr und bei der Berufswahl! Der Fahrsimulator führt jedem Probanden Stärken und Schwächen vor Augen.
Die 4 auf Tour.
Sie wird am 1. August 110 und ist immer noch eine Reise wert: Leipzigs Linie 4. Die Straßenbahn-Trasse führt von Stötteritz nach Gohlis, von Süd-Ost nach Nord-West. 27 Haltestellen, 46 Minuten Fahrzeit. Bewegend ist auch die Geschichte der 4. Die Inbetriebnahme der Linie stand am 1. August 1914 unter keinem guten Stern: Die Leipziger Neueste Nachrichten melden an diesem Samstag in großen Lettern: „Kriegszustand in Deutschland verhängt“. Trotzdem oder gerade deswegen fuhr man im August 1914 mit der 4 zum Kaffeekränzchen oder zum Tanztee.
Mich fuhr die 4 in den 1990ern von Reudnitz beziehungsweise Stötteritz zur Universität. Auch da gab's manch Tänzchen. Heute bringt die 4 Menschen in zwei Welten in Bewegung: Die Linie 4 gibt's nämlich doppelt – zum Einsteigen und Mitfahren und in einer künstlich erzeugten, digitalen Welt – als computergeneriertes Abbild der Realität. Zukünftige Straßenbahnfahrer können sich in der virtuellen Realität bewegen und mit dem Gesehenen interagieren. Virtual Reality nennt man diese Technologie. Der Begriff wurde erstmals 1982 in dem Science-Fiction-Roman „The Judas Mandala“ von Damien Broderick verwendet.
Dirk Deichsel, Leiter der Fahrschule.
Was vor 42 Jahren literarisch als utopische Fantasie galt, ist für Fahrschullehrer Dirk Deichsel und sein Team heute Alltag: Im Fahrsimulator der Leipziger Verkehrsbetriebe an der Angerbrücke trainieren angehende Fahrerinnen und Fahrer für ihren künftigen Job. Anfahren, bremsen, auf den Punkt zum Stehen kommen: Dies und vieles mehr ahmt der Fahrsimulator nach. Immersion beschreibt den Effekt des kompletten Eintauchens eines Nutzers in eine virtuelle Welt. Wer in die virtuelle Welt der Linie 4 eintaucht, erlebt manch Überraschung. Straßenbahnfahrer müssen auf alles gefasst und für alles gewappnet sein. Deshalb haben Deichsel und sein Administratoren-Team rund 20 „Ereignisse“ für Übungszwecke konfiguriert. Die Bandbreite ist groß: Autofahrer, die nicht die Kurve kriegen und ins Gleisbett fahren. Radfahrer, die spontan die Gleise überqueren. Kopfhörertragende Passanten, die fern jedes Geschehens um sie herum durch Leipzig schreiten. Türen, die sich nicht öffnen oder schließen lassen. Plötzlicher Starkregen oder Hagelschlag. Unterfahren von Trennern – etwa an großen Straßenkreuzungen wie dem Augustusplatz. Hier treffen verschiedene Oberleitungsnetze aufeinander und werden voneinander getrennt. „Vorrangig geht es im Fahrsimulator um das Trainieren des ressourcenschonenden, energieeffizienten und zeitsparenden Fahrens. Doch wir üben natürlich auch das Verhalten in Grenzsituationen“, sagt Deichsel.
Seit 1985 ist Deichsel, 62, Fahrlehrer – zunächst für Autofahrer, seit 2016 auch für Straßenbahnfahrer. Seiner Erfahrung nach spielt nicht das Alter eines Fahranfängers die entscheidende Rolle, sondern seine Erfahrung, sein Umgang mit Stress und komplexen Situationen, seine innere Ruhe und Konzentrationsfähigkeit. Kurzum: Wer fahrig ist, fährt nicht gut. Doch wie alles im Leben macht Übung den Meister. Auch beim Straßenbahnfahren. In einem Anflug von Leichtsinn mache ich einen Selbstversuch und setzte mich in den Fahrsimulator. Die Bildschirme projizieren mir die Riebeckstraße und ihre Umgebung. Los geht's. Auf der Riebeckbrücke greife ich zum Sollwertgeber, dem Hebel für Gas und Bremse zu meiner Linken. An der Haltstelle Breite Straße soll ich die 45 Meter lange, tonnenschwere, vollbesetzte Straßenbahn sanft zum Stehen bringen. Im Schneckentempo rolle ich an die Haltestelle. Noch stehen alle virtuellen Passagiere.
Augen auf im Verkehr und bei der Berufswahl! Der Fahrsimulator führt jedem Probanden Stärken und Schwächen vor Augen.
Zu meiner Rechten die Tasten fürs Türen öffnen, Türen schließen, Klingeln, Weichenstellen. Die Außenspiegel checken, die Türen im Blick, die Passagiere im Blick, die Zeit im Blick, das Startsignal im Blick – ich komme ins Schwitzen. Anfahren über die Weiche, „nicht schneller als 25 km/h“, höre ich Deichsel sagen. Ach so, auf die Geschwindigkeitsbegrenzung muss ich auch achten. Oh je. Signal beachten. Gas. Ausrollen. Nächste Haltestelle: Reudnitz, Köhlerstraße. Ich spüre jede Bodenwelle. Der Sitz unter mir bewegt sich. Er simuliert alle Unebenheiten. Gut geht's mir damit nicht. Signal beachten. Gas. Ausrollen. Nächste Haltestelle: Gerichtsweg. Ich habe keinen Blick für den Straßenzug. Meine linke Hand umklammert den Sollwertgeber. Meine Fingergelenke sind weiß. Der Johannisplatz naht. Ungemach droht. Unvermittelt läuft mir eine junge Frau mit Kopfhörern in den Fahrweg. Ich leite eine Gefahrenbremsung ein. Zuvor hätte ich Klingeln sollen. Zu spät. Im Rückspiegel sehe ich die Fahrgäste umfallen wie Kegel. Einer nach dem anderen. Mein Puls rast. Ich werde fahrig. „Wir fahren weiter“, sagt der Fahrlehrer. Er ist die Geduld in Person. Ich versuche, mich unter Kontrolle zu bringen. Mir ist bewusst: was ich mache, ist nicht real. Doch meine Fantasie und meine Erfahrung fahren mit und arbeiten gegen die Vernunft.
Ich gleite unter den Trennern des Augustusplatzes entlang. „Stromlos“, nennt es Deichsel. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel, Starkregen setzt ein. Die Scheibenwischer vermögen es kaum, eine Sichtschneise durch die Wassermassen zu bahnen. Meine Aufmerksamkeit gilt dem Geschehen vor mir, nicht neben mir. Und so kracht mir auf der Goethestraße ein abbiegender Lkw in die Seite. Er war von links aus der Nebenstraße gekommen. „Die Straßenbahn hat doch aber Vorfahrt“, höre ich mich rechtfertigen. Im Auto würde Fahrlehrer Deichsel sagen: „Fahren Sie rechts ran!“ Doch er zeigt sich sanftmütig und lässt mich bis zum Hauptbahnhof fahren und entlässt mich dort in Ehren: „Für das erste Mal ganz passabel.“ Mir schlottern die Knie. Ein vielzitierter Satz schießt mir durch den Kopf: Augen auf bei der Berufswahl! Seit meiner Probefahrt verneige ich mich innerlich vor jeder Straßenbahnfahrerin, vor jedem Straßenbahnfahrer. Schon Trockenschwimmen war nicht mein Ding. Trockenfahren erst recht nicht.
Fahrschul-Leiter Dirk Deichsel überwacht im Hintergrund das Fahrverhalten der Testfahrer und steuert das Testprogramm.
„Für viele Bewerber, Auszubildende, Quereinsteiger, aber auch erfahrene Kolleginnen und Kollegen ist der Fahrsimulator ein Gewinn“, sagt Deichsel. Der Wow-, oder Aha- oder Oho-Effekt sei enorm. „Der Simulator ist ein Schonraum. In ihm kann man seine Belastbarkeit, Stressresistenz, sein Verantwortungsbewusstsein testen und die Komplexität seiner möglichen Arbeitsaufgabe nachvollziehen. Im Fahrsimulator macht man die Probe aufs Exempel. Hier zeigen sich viele Licht- und Schattenseiten unseres Berufs. Wer dies selbst erlebt, fährt mit anderen Augen durch Leipzig“, sagt Deichsel. Seit Januar 2023 nutzen die LVB drei Fahrsimulatoren im Dauerbetrieb. Ein vierter soll Ende 2025 dazukommen. Simuliert werden Fahrten mit den Straßenbahntypen XL, XXL und NGT 10. Zukünftig auch NGT+.
Die Investition in neue Ausbildungs-Technologien sind ein Bestandteil der Wachstums-Strategie der LVB und des Liniennetzes der Zukunft. „Ohne zusätzliche Fahrerinnen und Fahrer, die zügig und qualitativ hochwertig ausgebildet werden können, ist allerdings kein Staat zu machen. Auch deshalb setzen wir im bundesweiten Vergleich Maßstäbe mit unserer Fahrerausbildung. Vergleichbare Fahrsimulatoren gibt es momentan nur in Berlin, Mannheim und Stuttgart“, sagt Deichsel.
Die Innovationsbereitschaft der LVB und die Berufsperspektive bei den LVB haben sich mittlerweile rumgesprochen und tragen Früchte. Allein im vergangenen Jahr konnte der Mobilitätsdienstleister 470 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewinnen – die meisten davon im Fahrdienst. Dabei wird die interkulturelle Vielfalt innerhalb des Unternehmens mittlerweile als Stärke angesehen. Waren 2013 noch sechs Nationen in der LVB-Gruppe vertreten, sind es mittlerweile 43. Zudem haben rund zwölf Prozent der Auszubildenden einen Migrationshintergrund.
Auf Wachstumskurs sind nicht nur die Mitarbeiterzahlen, sondern auch die Fahrgastzahlen. Im vergangenen Jahr zählte das Unternehmen 153 Millionen Fahrgäste – 18 Millionen mehr als 2022. In der ÖPNV-Branche gilt dies als Spitzenwert. „Leipzig steigt um und wir geben unser Bestes dafür – deshalb freue ich mich über jeden Kollegen, der in den Fahrsimulator steigt und sein Fahrverhalten trainiert und sich fit hält“, sagt Deichsel. Umsteigen kommt für ihn nur nach Feierabend infrage. Worauf? „Ich restauriere gerade einen alten Barkas B 1000. Ein Schätzchen. Unsere Flotte dagegen ist ein Schatz“, sagt Schöne und gibt mir zum Abschied einen Rat: „Probieren Sie es doch mal als Busfahrerin.“
Nicht lange überlegen, einfach ausprobieren! Die Leipziger Verkehrsbetrieben laden Interessierte an drei Samstagen (1. Juni | 24. August | 26. Oktober) auf das Betriebsgelände Heiterblick ein. Zwischen 10 und 16 Uhr können sie auf einem herausfordernden Parcours testen, wie sich der Job eines Busfahrers tatsächlich anfühlt. Ebenfalls vor Ort gibt es Informationen zum Bewerbungsverfahren. Fahrlehrer beantworten Fachgespräche zur Busausbildung oder zum Schichtsystem. Wer mag kann seine Bewerbung noch vor Ort abgeben.