Drunter und Drüber

von Leipziger Leben | 29.04.2019

Auf Leipziger Hochspannungsmasten und im Kanalisationsnetz arbeiten Männer, die zwei Eigenschaften verkörpern müssen: Mut und Gelassenheit.

Drei Personen stehen mit verschränkten Armen und in Schutzkleidung vor einem Kanaleinstieg.

Drei Lichtkegel tanzen über Wände aus feucht glänzendem Klinkerstein. Irgendwo plätschert Wasser. Die Luft ist schwanger vom Geruch nach Erde, Morast und Fäule. Ein Dröhnen hallt durch den Schlund des Kanals, in dem sich drei Männer bewegen. Aus der Tiefe rollt das Donnern heran, lässt ihre Körper vibrieren und verschwindet wieder im schwarzen Nichts. Was wirkt wie eine Szene aus einem Horrorfilm, ist tatsächlich ein Ort in Leipzig und das Dröhnen stammt vom Straßenverkehr. Wir befinden uns mitten in der Innenstadt. Oder genauer: unter der Innenstadt, im unterirdischen Kanalsystem des Leipziger Abwassernetzes, und die tanzenden Lichtkegel kommen von den Kopflampen von Sven Lietzmann, René Kühne und Daniel Liebing.

Die drei Mitarbeiter der Leipziger Wasserwerke bewegen sich sicher und vorsichtig durch den großen Abwasserkanal unter dem Goerdelerring, prüfen mit einem Hammer die Verfugungen zwischen den Klinkern, beurteilen, ob hier bald Instandsetzungen notwendig wären. Ein Routinevorgang – und wiederum auch nicht. „Man weiß hier unten nie, was einen erwartet“, sagt Teamleiter Sven Lietzmann. „Das ist jedes Mal wieder spannend. Kanäle können verstopft sein, die Wassermenge kritisch, und manchen Kollegen sind beim Hämmern gegen die Klinker auch schon mal fünf Quadratmeter Ziegeldecke entgegengekommen.“

Affenschaukel und Bratpfanne

Felix Linke und Dörg Engelhardt stehen vor einem Strommast.

Felix Linke (r.) wird von Dörg Engelhardt in die Welt der Freileitungsmonteure eingewiesen.

Szenenwechsel. Vögel zwitschern, Frühling liegt in der Luft. Klingt ganz wunderbar – und dennoch würden wohl nur wenige mit Carsten Spangenberg und Dörg Engelhardt tauschen wollen. Denn die beiden Freileitungsmonteure der Netz Leipzig, einem Tochterunternehmen der Leipziger Stadtwerke, stehen auf einem Hochspannungsmast in 55 Metern Höhe auf einer Arbeitsbühne, die sie scherzhaft „Affenschaukel“ nennen. Kopf und Körper signalisieren: Höchstgefahr. Dörg Engelhardt bleibt jedoch die Ruhe in Person. Er hat schon so manchen Stahlriesen des Leipziger Netzanbieters erklommen. Der Aufstieg beginnt auf den ersten dreieinhalb Metern mit dem Klettern entlang diagonaler Stahlstreben, bis Steigeisen am Mast für zusätzlichen Halt und einen zügigeren Aufstieg sorgen. Wobei zügig sehr relativ ist: Denn immer müssen sich die Männer ähnlich wie beim Bergsteigen doppelt sichern mit Karabinerhaken in der Größe von Bratpfannen.

Auf dem Weg nach oben prüfen sie, ob der Stahl Risse bekommen hat, die Lackschicht intakt ist und die teilweise faustgroßen Stahlschrauben die Querstreben noch halten. „Gerade bei Sturm entstehen hier unglaubliche Kräfte. Da kann so eine Schraube in der Mitte einfach durchtrennt werden.“ Kennt Dörg Engelhardt das Gefühl von Angst, wenn er oben im Mast sitzt? „Meistens nicht. Aber wenn es stärker windet, die Freileitungen dann ins Schwingen kommen und der Hochspannungsmast zu wanken beginnt, dann wird es auch mir etwas mulmig in der Magengegend.“

Unten im Kanal

Zwei Personen in Schutzkleidung stehen in einem gemauerten Kanal. Im Vordergrund kann man über die Schulter einer dritten Person mit Gaswarngerät sehen.

Wenn man nichts mehr riecht, wird’s gefährlich. Dann hilft aber der Blick auf das Gaswarngerät.

Arbeiten in so luftiger Höhe ist nicht jedermanns Sache. Arbeiten in einer Höhe von 1,30 Metern aber auch nicht. So niedrig sind manche Kanäle im Abwassersystem Leipzigs. Kaum vorstellbar, wie ein Bär von einem Mann wie René Kühne hier sieben Meter unter der Erde acht Stunden am Tag in Dunkelheit und Feuchtigkeit Ausbesserungsarbeiten durchführt. Aber es geht. Muss gehen. „Das ist schon eine Belastung“, sagt der Sanierungsfachmann. „Mit voller Montur, mit Material und Mörtel hier eine händische Sanierung durchzuführen, ist anstrengend. Und Platzangst darf man schon mal gar nicht haben, sonst ist es gleich aus.“ „Unter Tage“ tragen sie immer ein Gaswarngerät bei sich. Denn wenn das Abwasser länger in den Kanälen steht, die zum Teil noch aus dem 18. Jahrhundert stammen, kann sich Schwefelgas entwickeln. „Es hat den Geruch von faulen Eiern“, weiß Sven Lietzmann. „Solange man es riecht, ist alles ok. Riecht man es aber nicht mehr, wird es gefährlich. Dann verliert man bald das Bewusstsein, kippt um und ertrinkt oder erstickt.“

Damit das nicht passiert, misst das Gaswarngerät den Schadstoffgehalt im Sauerstoff und alarmiert, bevor die kritischen Werte erreicht werden. Wenn es regnet, dürfen die Experten nicht hinabsteigen – die Massen an Wasser in den Kanälen sind einfach zu gefährlich. „Wir gehen bei Wind und Wetter hoch“, sagt Carsten Spangenberg, der mit Dörg Engelhardt die Freiluftarbeiten am Hochspannungsmast ausführt. „Nur bei Frost bleiben wir unten, da sind die Diagonalen überfroren, das wird zu heikel.“ 181 Masten inspizieren die beiden schwindelfreien Männer jedes Jahr. Und auch sie haben einen technischen Kompagnon dabei: Ein Höhensicherungsgerät, das bei Arbeiten auf der oberen Traverse am Stahl montiert wird. Es funktioniert wie ein Autogurt und wird am Stahlgerüst sowie an den Körpergurten der Männer befestigt. Rutscht einer aus und stürzt in die Tiefe, wird sein Fall schnell vom Sicherungssystem aufgefangen. „Wir sind in Höhenrettung ausgebildet. Ab diesem Moment hat man 20 Minuten Zeit, den Kollegen zu bergen, bevor die Gurte die Blutzirkulation in den Beinen komplett abgeklemmt haben und ein Hängetrauma das Lebenslicht ausknipst.“

 

Dieser Beitrag über Arbeiter in Kanälen und auf den Energie-Masten des Stadtgebiets – zwei Jobs, die nichts für schwache Nerven sind – entstammt unserem Magazin Leipziger Leben (1/2016).

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