Vom Leiharbeiter zum festen Teammitglied: wie Integration gelingen kann
von Simone Liss | 20.09.2022
von Simone Liss | 04.10.2022
Lese-Rechtschreib-Schwäche, Diabetes, Rheuma, Depression, Burnout, Morbus Crohn – es gibt zahlreiche Entwicklungsstörungen und Krankheiten, die Menschen schwächen, beeinträchtigen, sogar behindern.
In Deutschland leben etwa 13 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung, darunter rund acht Millionen schwerbehinderte Menschen. Lese-Rechtschreib-Schwäche, Diabetes, Rheuma, Depression, Burnout, Morbus Crohn – es gibt zahlreiche Entwicklungsstörungen und Krankheiten, die Menschen schwächen, beeinträchtigen, sogar behindern. In Deutschland leben etwa 13 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung, darunter rund acht Millionen schwerbehinderte Menschen.
Frank Pertzsch, Vertreter der Schwerbehinderten bei der Leipziger Gruppe.
Pertzsch ist einer von acht Millionen. Der ehemalige Kanalwerker der Leipziger Wasserwerke plagte sich lange mit anhaltenden Bauchschmerzen und zunehmender Erschöpfung, bis im Jahr 2000 die erschütternde Diagnose kam: Morbus Crohn. Eine schwere Autoimmunkrankheit, die chronisch ist und den Darm dauerhaft schädigt. Für den 40-Jährigen damals wie ein Halt auf freier Strecke – privat wie beruflich. Mitten im Berufsleben Gefahr zu laufen, aufs Abstellgleis geschoben zu werden: unvorstellbar für den tatkräftigen, lebenslustigen Mann. 22 Jahre nach der Diagnose ist Pertzsch Konzernschwerbehindertenvertreter und macht sich gemeinsam mit Betriebsräten aus ganz Deutschland für eine inklusive Arbeitswelt stark. Seit zwölf Jahren kämpft der gebürtige Bad Dübener für die Belange von Menschen, die sich mit und trotz Handicaps im Arbeitsalltag beweisen. „Was für mich zählt, ist die Arbeitseinstellung: Bin ich bereit, meine Fähigkeiten und Kompetenzen einzubringen? Nur weil man durch eine Krankheit ausgebremst wird, verliert man ja nicht seine Qualifikation, Loyalität oder Bedürfnis nach Teilhabe. Jeder hat eine Chance verdient – ob mit oder ohne Handicap“, sagt Pertzsch.
Gemeinsam mit seinen Kollegen hat er mit der Geschäftsführung der Leipziger Gruppe eine Inklusionsvereinbarung ausgehandelt, die in Deutschland ihresgleichen sucht. „Sie hat das Ziel, die berufliche Zukunft aller Mitarbeiter des Konzerns abzusichern – auch bei einer negativen gesundheitlichen Entwicklung. Sie nimmt Chefs und Personalentwickler in die Pflicht, die Leistungen und Fähigkeiten sogenannter leistungsgewandelter Beschäftigter zu berücksichtigen. Sie soll bei der Wiedereingliederung, Arbeitsplatzgestaltung, Weiterbildung und Nachteilsausgleichen helfen und ein klares Signal gegen Ausgrenzung und für Toleranz aussenden: Bei der Leipziger Gruppe ist jeder Arbeitnehmer willkommen – unabhängig von seinem Status!“ Diesen Satz unterstreicht Michael M. Theis, Sprecher der Geschäftsführung und Arbeitsdirektor der Leipziger Gruppe: „Inklusion bedeutet, Chancen zu sehen und zu geben. Inklusion ist Teil unserer Unternehmensphilosophie und damit eine langfristige Investition in die Zukunftsfähigkeit unseres Unternehmens.“ Für Theis und Pertzsch sind flexible Arbeitszeiten, Sonderurlaub, Arbeitsassistenz, Tandem-Lösungen, Mentoren-Programme, Supervision, Rehabilitation ebenso selbstverständlich wie Respekt.
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„Inklusive Führung“, sagt Michael M. Theis, „trägt wesentlich dazu bei, dass nicht nur schwerbehinderte oder gleichgestellte Mitarbeiter, sondern alle behinderten Menschen im Unternehmen volle Leistung bringen und damit ihren maximalen Beitrag zum Gesamtergebnis leisten.“ Dem Manager liegen die Themen Vielfalt und Inklusion beruflich wie persönlich am Herzen – für Theis sind sie Zukunftsthemen. Nur wer offen, fair und sozial ist, werde sich als Arbeitgeber und im Ringen um Fachkräfte behaupten.
„Unser Ansatz in der Leipziger Gruppe konzentriert sich grundsätzlich auf die Ressourcen – also die Kompetenzen, die Qualifikationen und Stärken einer Person. Ich hatte mal ein Vorstellungsgespräch mit einem Rollstuhlfahrer. Der hat gesagt: ,Ich habe schon Probleme gelöst, die Sie überhaupt nicht kennen‘. Er hat seine Problemlösungskompetenz, seine Fähigkeit im Umgang mit Enttäuschungen und Nicht-Können in den Mittelpunkt gestellt. Das hat mir gezeigt: Wenn wir auf den Bedarf gucken, den jemand hat, damit sie oder er ihre oder seine Fähigkeit einbringen kann, profitieren wir von Vielfalt“, so Frank Pertzsch und erinnert an eine Rede von Richard von Weizsäcker (1920-2015).
„Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann. Es ist normal, verschieden zu sein. Es gibt keine Norm für das Menschsein. Manche Menschen sind blind oder taub, andere haben Lernschwierigkeiten, eine geistige oder körperliche Behinderung – aber es gibt auch Menschen ohne Humor, ewige Pessimisten, unsoziale oder sogar gewalttätige Männer und Frauen. Dass Behinderung nur als Verschiedenheit aufgefasst wird, das ist ein Ziel, um das es uns gehen muss. In der Wirklichkeit freilich ist Behinderung nach wie vor die Art von Verschiedenheit, die benachteiligt, ja die bestraft wird. Es ist eine schwere, aber notwendige, eine gemeinsame Aufgabe für uns alle, diese Benachteiligung zu überwinden“, sagte der ehemalige Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland am 1. Juli 1993.
Die Realität ist fast 30 Jahre nach Weizsäckers Rede ernüchternd: Beschäftigung von Menschen mit Behinderung hinkt in Sachsen im bundesweiten Vergleich hinterher. Es gebe noch Luft nach oben, konstatierte der Chef der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit, Klaus-Peter Hansen, Ende Mai. „Die Integration von schwerbehinderten Menschen bietet viele Chancen“, betonte er. Sie seien überdurchschnittlich gut qualifiziert und könnten mit geeigneten Arbeitshilfen, die Arbeitsagenturen und Integrationsämter finanzierten, hundert Prozent Leistung erbringen. „Sie sind oft die Fachkräfte, die händeringend gesucht werden.“
2020 hatten nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit mehr als 58.000 Menschen mit Behinderungen einen sozialversicherungspflichtigen Job in Sachsen. Das seien gut 6200 mehr als noch 2015, hieß es. Betriebe ab einer Größe von mindestens 20 Beschäftigten sind verpflichtet, fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Dem kommen aber nicht alle Unternehmen nach. Die Quote liege in dieser Gruppe nur bei 4,1 Prozent und damit niedriger als im Bundesvergleich (4,6 Prozent), so die Regionaldirektion.
Der Deutsche Betriebsrätepreis ging 2019 an die Leipziger Gruppe.
Wie Inklusion in Unternehmen Normalität werden kann, zeigt das Beispiel der Leipziger Gruppe. Hier sind 320 von 5.000 Mitarbeitern leicht- bis schwerbehindert (6,5 Prozent) – vom Auszubildenden bis zum Meister. „Damit sind wir nicht nur sozialer, sondern auch wettbewerbsfähiger“, betont Pertzsch. Für ihre Inklusionsvereinbarung wurde die Leipziger Gruppe 2019 mit dem Deutschen Betriebsrätepreis ausgezeichnet. „Der Paradigmenwechsel dieser Vereinbarung besteht darin, dass sie sich nicht auf einzelne Menschen mit Behinderung beschränkt, sondern es zur Aufgabe des Unternehmens wird, für eine Verwirklichung umfassender, gleichberechtigter und selbstbestimmter Teilhabe zu sorgen. Ziel der Inklusion ist es, dass Behinderung im betrieblichen Alltag keinen Unterschied macht. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass auf allen Arbeitsplätzen auch leistungsgewandelte Beschäftigte eingesetzt werden können“, so der Arbeitsforscher Prof. Dr. Erhard Tietel zur Begründung der Jury.
So leistet die Stadt Leipzig Hilfe und Unterstützung: André Neutag ist Peer-Berater. Er berät seit Anfang des Jahres aus „Peer-Sicht“ Menschen mit Behinderungen und sie unterstützende Personen. Dabei steht „Peer“ für die Beratung durch einen Menschen, der selbst Erfahrungen mit einer Behinderung macht oder gemacht hat. Das ermöglicht ein Gespräch auf Augenhöhe. Es kann dabei um Informationen zu Antragsverfahren, zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, um Fragen zu Bildung, Wohnen oder Arbeit oder auch um die Vermittlung an speziellere Beratungs-Angebote in Leipzig gehen. „Als Mensch mit einer eigenen Behinderungserfahrung kann ich einschätzen, wie es sich anfühlt, diskriminiert und ausgegrenzt zu werden. Der eigene Umgang damit bereichert meine Beratungstätigkeit“, so André Neutag.