Von der Baustelle ins Büro: wie eine Umschulung neue Perspektiven eröffnet
von Simone Liss | 13.09.2022
von Simone Liss | 11.10.2022
Keine Steine im Weg, keine Barrieren im Kopf, keine Neider an der Seite: Was es bedeutet, ungehindert Ausbildung, Studium und Promotion machen und seine Potenziale ausschöpfen zu können, zeigt die Karriere von Christopher Szymula bei der Leipziger Gruppe.
Theoretische Konstrukte in mathematische Formeln gießen und Wahrscheinlichkeiten berechnen – das ist die Passion von C. Szymula.
Seine berufliche Entwicklung ist alles außer gewöhnlich: Vom Straßenbahnfahrer bei den Leipziger Verkehrsbetrieben (LVB) über das Diplom in Verkehrstechnologie bis zum Doktortitel im kommenden Jahr – das alles in nur zwölf Jahren. Wie er das geschafft hat? „Mit Leidenschaft für Verkehr“, sagt Christopher Szymula und lacht. „Im Ernst: Ich hatte großes Glück – ich bin von Haus aus mit Neugier und Verstand gesegnet; habe Eltern, die mich in all meinen Entscheidungen unterstützen; Ausbilder und Kollegen, die mich ernst genommen; Chefs, die meine Stärken erkannt und meinen Wunsch nach einem unkonventionellen Arbeitsmodell respektiert haben“, sagt der 30-Jährige. „Viele tolle Menschen haben bisher meinen Weg gekreuzt und mich bestärkt, meinen beruflichen Sturm und Drang auszuleben.“ Aber der Reihe nach.
Alles was rollt, fasziniert Christopher Szymula schon von Kindesbeinen an: „Ich bin 1992 in Leipzig geboren und quasi in und mit der Straßenbahn großgeworden. Mitte der 1990er waren es die ersten Niederflur-Gelenktriebwagen mit acht Achsen – kurz NGT8 –, die meine volle Aufmerksamkeit hatten. Danach der NGTW6, der sogenannte Leoliner. Und natürlich die Tatra-Bahnen. Ich wollte alles wissen: Wie funktioniert so eine Bahn auf der Schiene mit all ihren Weichen, Signalen und Stromabnehmern?“ Aber auch die Menschen, die täglich ein- und ausstiegen, interessierten den Heranwachsenden – ihre Gespräche über Sorgen, Abenteuer, Triumphe und Niederlagen. „Wenn wir über Vielfalt von Alter, Geschlecht, Hautfarbe, sozialer Herkunft, geistiger und körperlicher Fähigkeiten, sexueller Orientierung und Religion sprechen und wissen wollen, wie divers unsere Gesellschaft ist, dann muss man nur in die Straßenbahn steigen, beobachten und lauschen. Hier lernt man viel fürs Leben. Erst recht als Straßenbahnfahrer oder Straßenbahnfahrerin.“
Fachzeitschriften lesen, Seminare vorbereiten – das alles gehört zur Aufgabe von Christopher Szymula.
Sein Berufswunsch überraschte weder Familie noch Freunde: Christopher Szymula will Fahrkraft im Fahrbetrieb bei den Leipziger Verkehrsbetrieben werden. Eine ungewöhnliche Entscheidung ob seines Einserabiturs. „Meine Eltern, beide Akademiker, konnten und wollten mich nicht bremsen. Ich hatte ein Schüler-Praktikum in der Datenversorgung des Leitsystems der LVB gemacht und war nicht mehr aufzuhalten. Fahren, Dienstplanung, Recht, Werkstatt, Vertrieb, Verkehrsplanung – ich wollte alles wissen und verstehen. Das hat sich bis heute nicht geändert“, sagt Christopher Szymula. Auch wenn das Berufsleben als Straßenbahnfahrer oder Straßenbahnfahrerin hart sei, die Schichtdienste („vor allem an den Weihnachtsfeiertagen, die ich liebe, eine Tortur“), die Selbstdisziplin („man muss immer wach, präsent, konzentriert sein“) und die Verantwortung („davor habe ich großen Respekt“) eine Herausforderung seien – seine Entscheidung hat der junge Mann nie bereut. „Aus verschiedenen Gründen: Ich habe viele Kolleginnen und Kollegen kennen- und schätzen gelernt, die das Herz auf der Zunge getragen, aber nie unfair gewesen sind. Ihre Kritik war oftmals sehr direkt – hart, aber herzlich. Ich habe zudem durch meine Arbeit alle Seiten Leipzigs kennengelernt – die Stadt zu allen Uhrzeiten, Jahreszeiten, Wettern, ihre schönen und ihre hässlichen Seiten. Ich habe die Stadtgesellschaft kennengelernt – Pendler, Partypeople, Parksünder und Pechvögel. Und die Arbeit hat mir das Tor zu Forschung und Lehre geöffnet: Nach dem ich nach meiner Ausbildung ein Jahr als Fahrer und Datenversorger gearbeitet hatte, zog mich meine Neugier an die Technische Universität Dresden, zum Studium des Verkehrsingenieurswesens. Mich interessierte vor allem das Gebiet Verkehrssystemtechnik und Logistik, insbesondere in Bezug auf Bahn und öffentlichen Personennahverkehr.“
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Seine praktischen Erfahrungen sind für Christopher Szymula im Studium Gold wert. Abstrakte Konzepte, mathematische Modelle von Verkehrsprozessen, Studien – der Leipziger wandelt ohne Schranken zwischen Theorie und Praxis. Wie effizient sind Geschwindigkeitserhöhungen auf unabhängigen Bahnkörpern? Welchen Einfluss hat es auf den Verkehrsfluss, wenn die Straßenbahn nur nach Bedarf hält? Verkraftet eine Straßenbahn im Akku-Betrieb Halte und Störungen? Welche Effekte haben überlange Straßenbahnen im Einsatz bei Großevents? „Um für diese und viele Fragen mehr Vorhersagen zu treffen, helfen mir mathematische Modelle, Programmierkenntnisse, aber auch meine praktischen Fähigkeiten“, sagt Christopher Szymula. Seine Diplomarbeit hat sich mit der Frage beschäftigt, ob man mit Künstlicher Intelligenz Verspätungen im Störungsfall voraussagen kann. In seiner Doktorarbeit untersucht er nun, wie Kapazitäten in Eisenbahnnetzen analysiert und erhöht werden können.
Alle Mühe und alles Streben dreht sich bei Christopher Szymula um den Verkehr und um die Netze von morgen, um die Zukunft. „Forschen zu können und gleichzeitig Lösungen für drängende aktuelle Fragen und Probleme zu finden – das erfüllt und motiviert mich sehr.“ Zu verdanken hat er diese „Fügung“, wie es Christopher Szymula nennt, Professor Karl Nachtigall von der TU Dresden und Sven Schöne, Leiter der Verkehrswegeplanung bei den LVB. Beide Führungskräfte sind Christopher Szymulas ungewöhnlicher Bitte nachgekommen, seine Arbeitswoche in drei Tage Forschung in Dresden und zwei Tage Projektarbeit in Leipzig teilen zu dürfen. „Beide haben mein Potenzial und die Chance, die in so einem Arbeitsmodell steckt, erkannt. Ihr Vertrauen und der Rückhalt des gesamten Verkehrstechnologie-Teams der LVB bedeuten mir sehr viel. Ich bin mir bewusst, wie privilegiert ich bin und tue deshalb auch alles für gute Ergebnisse.“ Für seine Leistungen an der Verkehrswissenschaftlichen Fakultät der TU Dresden ist Christopher Szymula in diesem Jahr mit der Lohrmann-Medaille ausgezeichnet worden. Sie wird jedes Jahr an den besten Absolventen einer Fakultät vergeben und erinnert an den ersten Rektor der TU Dresden, Wilhelm Gotthelf Lohrmann (1796-1840). Er hat die Topographie der Mondoberfläche sowie das Planetensystem der Sonne erforscht.
Christopher Szymula bleibt lieber mit den Füßen auf der Erde. Der Swingtänzer, der sich ehrenamtlich für die Gewerkschaft Verdi und die politische Bildung stark macht, sieht die Bewegung der neuen Arbeitswelt – hin zu mehr Teilhabe, Selbstbestimmung, Chancengleichheit und Diversität – mit Wohlwollen. „Gedankenschranken bringen uns nicht weiter. So verschieden wie Menschen sind, so verschieden sind ihre Potenziale, Bedürfnisse und Leistungsgrenzen. Ich wünsche mir mehr Mut und Pragmatismus, wenn es darum geht, Talente zu fördern, Arbeitszeitmodelle zu überdenken, Barrieren abzubauen.“