Chancengleichheit und Vielfalt im Job: was heißt das?
von Simone Liss | 30.08.2022
von Simone Liss | 06.09.2022
38 Jahre lang hat Rachel Monique Seifert als Mann gelebt. Dabei spürt sie schon als Kind: Ich bin anders. Vor fünf Jahren beschließt sie, ihr Leben als der Mensch weiterzuführen, der sie ist: eine Frau.
Damals orientiert sie sich auch beruflich neu und landet über ein Praktikum bei der Leipziger Gruppe. Bei der Leipziger Aus- und Weiterbildungsbetriebe GmbH (LAB) ist Rachel Monique Seifert heute Auszubildendenberaterin und Ausbildungsverantwortliche für Dienstleistungsberufe, und sagt: „Meine Transidentität hat hier nie eine Rolle gespielt – hier wird der Mensch gesehen.“ Im Interview erzählt die 43-Jährige ihre Geschichte.
Frage: Seit wann ist Ihnen Ihre Transidentität bewusst?
Rachel Monique Seifert: Als Kind wusste ich immer: Ich bin anders. Das war so ein Gefühl, ich konnte damit aber nichts anfangen. Damals dachte ich: Ich muss mehr sein als die anderen. Also habe ich mir viel abgeguckt, zum Beispiel wie ein echter Kerl läuft. Nach der Schule bin ich zur Bundeswehr gegangen und habe mich zum Fluggerätemechaniker, Richtung Instandhaltungstechnik, ausbilden lassen. Ich habe geglaubt, dass mich der Bund zum Kerl macht – das hat nicht funktioniert.
Gab es ein Schlüsselerlebnis für Sie, in dem Ihnen alles klargeworden ist?
Während meiner Zeit bei der Bundeswehr habe ich meine heutige Ex-Frau kennengelernt, und deren Schwester brachte das Schlüsselerlebnis: „Wir machen heute mal ein Späßchen: Wir schminken Dich, und dann holen wir so Deine Frau ab“, hat sie gesagt. Als ich mich im Spiegel gesehen habe, mit Make-up im Gesicht, war das ein unglaublich befreiendes Gefühl. Ich wusste endlich, was mit mir los ist. Ich bin eine Frau.
Vom Fluggerätemechanikerin zur Auszubildendenberaterin: Rachel Monique Seifert.
Wie ging Ihr Leben nach dieser Erfahrung weiter?
Unverändert. Nur dass ich angefangen habe, mich zum Thema Trans zu belesen – und das stimmte alles, alles passte zu mir! Aber ich dachte „Das darf nicht so sein, das kannst du nicht machen!“, denn zu diesem Zeitpunkt hatten meine Frau und ich schon ein Kind. Also habe ich weiter verdrängt. Mit der Verdrängung ist es nur leider so: Das kommt immer wieder hoch, und jedes Mal, wenn es hochkommt, wird‘s krasser. Also habe ich mich abgelenkt – mit dem Hausbau und einer neuen Ausbildung zur Fachkraft für Schutz und Sicherheit. Beim Hausbau hatte ich ständig das Gefühl: Wenn das Haus fertig ist, zieht einer aus. Und so war es auch: Das Haus war fertig, wir hatten drei kleine Kinder – und die Beziehung ging in die Brüche.
Welche Rolle hat dabei Ihre Transidentität gespielt?
Meine Frau wusste davon noch nichts. Vielleicht hat sie es geahnt, aber wir haben nie darüber gesprochen. Ich bin ausgezogen und dachte: Probierst Du es nochmal so, wie die Gesellschaft es von Dir erwartet. Also bin ich mit meinem Ex-Freund zusammengekommen – er war damals noch eine Frau. Irgendwann 2017 saßen wir zusammen auf dem Sofa und haben die Serie „Orange Is The New Black“ geschaut. Da spielt eine Trans-Frau mit, Laverne Cox. Und plötzlich habe ich einfach meine ganze Geschichte ausgepackt. Nur mit der Reaktion habe ich nicht gerechnet: „Mir geht’s genau wie Dir, nur andersrum.“
Wie ging es nach diesem Coming-out weiter?
Wir haben direkt beschlossen, das gemeinsam durchzuziehen: die Transition, die Angleichung des Geschlechts. Das sind für Männer und Frauen sehr unterschiedliche Prozesse, das hätte ich nicht gedacht. Aber sie alle beinhalten: Ämter, Psychologen, Operationen. Wir haben beide unsere Jobs gekündigt – ich war damals Schichtleiter bei einem Logistikunternehmen –, weil die Menschlichkeit gefehlt hat. Nur schuften, das geht überall. Dann sind wir ans andere Ende der Stadt gezogen und haben mit neuen Namen ein neues Leben begonnen.
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Wie hat sich Ihr Leben seitdem verändert?
Ich habe bei Gericht die Vornamens- und die Personenstandsänderung beantragt. Dafür musste ich mir mehrfach von Gutachtern meine Transidentität bestätigen lassen, und das beinhaltet teilweise entwürdigende Fragen. „Wie ist Ihr Masturbationsverhalten?“ zum Beispiel. Parallel habe ich angefangen, Hormone zu nehmen und sogenannte Testosteronblocker. Diese Blocker haben mich dauerhaft müde gemacht und sie lösen Depression aus – aber das hatte ich, auch durch eine begleitende Therapie, gut im Griff. Aber nach zwei Monaten hat sich das eingepegelt, und ich habe erste Ergebnisse gesehen: Meine Stimme und mein Bartwuchs haben sich zwar nicht verändert (der Stimmbruch ist unumkehrbar, dafür gibt es Logopädie oder eine Stimmbandoperation. Der Bartwuchs hört nicht auf, dafür gibt es die Haarnadelepilation. Anm.d.Red.). Doch der erblich bedingte Haarausfall bei Männern war aber vorbei, meine Haut wurde weicher. Und: „Fettmasseverschiebung“! Vom Bauch wandert das Fett in Richtung Hüften. Vor zwei Jahren hatte ich dann die geschlechtsangleichende Operation, Hoden raus und Komplettumbau. Erst neun Monate später konnte ich wieder richtig sitzen, aber: Ich würde es immer wieder tun! In zwei Monaten ist auch mein Brustaufbau abgeschlossen – mir gefällt, was ich da im Spiegel sehe. Ich könnte mich heute über mich selbst ärgern, dass ich nicht früher angefangen habe. Aber wahrscheinlich habe ich die Zeit gebraucht, um zu werden, wer ich bin.
Wie hat Ihr Umfeld darauf reagiert?
Meine Ex-Frau sagte nur: „Okay, das erklärt Einiges.“ Meine Kinder finden das cool, aber wir haben gerade keinen Kontakt. Sie leben in einer Kleinstadt, und ich will meine Kinder vor den Reaktionen der Menschen auf meine Transidentität beschützen.
Aufklärung und Wissen können Diskriminierung etwas entgegensetzen.
Welche Reaktionen begegnen Ihnen im Alltag?
Erstmal wird blöd geguckt. Dann gibt es blöde Sprüche. Oder mir fasst jemand an die Brüste und fragt „Sind die echt?“. Ich werde auch angerempelt oder bespuckt. Das Krasseste ist mir aber in der Pandemie passiert: Ich ging gerade zum Auto, als die Müllabfuhr vorbeikam, und einer der Männer in Orange ruft mir zu: „Sowas wie Du müsste an Corona verrecken.“
Wie erklären Sie sich diesen Hass?
Diskriminierung liegt an zu wenig Aufklärung. Alles, was wir nicht kennen, ist erstmal böse. Wann beschäftigt man sich schon mit dem Thema Transidentität? Wenn es einen selbst betrifft – oder man jemanden im Umkreis hat, den es betrifft. So bleibt das Thema für die meisten fremd – und eben böse.
War Ihre Transidentität beruflich ein Problem?
Als ich vor fünf Jahren zum ersten Mal als Frau einen Job gesucht habe, habe ich 279 Bewerbungen abgeschickt – und 279 Absagen erhalten. Dann habe ich eine Umschulung zur Personaldienstleistungskauffrau und danach noch die Prüfung zur Personalfachkauffrau gemacht. Teil dieser Umschulung war ein Praktikum, für das ich mich bei der Leipziger Aus- und Weiterbildung (LAB) beworben habe. Im Bewerbungsgespräch ging es ganz viel über meine Vorstellungen und Ziele für die Zukunft, und ich dachte mir: „Hey, ich will doch nur Praktikum hier machen, nicht hier anfangen!“ Nur: Meine Transidentität war kein Thema. Am Ende habe ich dann gefragt: „Wollen Sie eigentlich meine Unterlagen sehen? Hier ist meine Vornamens- und die Personenstandsänderung.“ Ich dachte, ich müsse erklären, warum auf meinen Zeugnissen ein anderer Name steht. Nach dem Gespräch hat mir meine spätere Chefin gestanden, dass ihr das überhaupt nicht bewusst war. Da habe ich realisiert, was hier gerade passiert ist, und ich wusste: Hier will ich arbeiten! Noch im Praktikum wurde mir ans Herz gelegt, mich zu bewerben – und seit 2019 arbeite ich hier, in meiner Abteilung.
Was ist in Ihrer Abteilung anders als in anderen Abteilungen?
Hier wird der Mensch gesehen. Auch Noten spielen bei uns zum Beispiel keine Rolle bei der Auswahl von Azubis. Es geht ausschließlich darum, was jemand kann. Jeder hat dieselben Chancen, hier anzufangen, denn jeder hat bei uns einen Test, der zum Berufsbild passt. Zudem wird gegen Diskriminierung und Rassismus vorgegangen, bis zu Abmahnung und Kündigung. In anderen Abteilungen wurde schon über mich gelästert, das hatte zum Glück auch Konsequenzen. Vor allem haben aber die Azubis gesagt: „Wir möchten dort nicht arbeiten.“ Das hat mich sehr gefreut.
Spielt Ihre Transidentität heute eine Rolle in Ihrem Berufsalltag?
Manchmal sagen Leute am Telefon „Ich hätte gerne die FRAU Seifert gesprochen“, meine Stimme klingt ja recht tief. Und es gibt viele alte Strukturen überall, die nur langsam aufbrechen. Vor allem merke ich aber in meiner Arbeit mit den Azubis: Alles, was ich erlebt und durchgemacht habe, hilft mir bei meiner Arbeit. Ich kann mich gut auf vieles einstellen und mich einfühlen, und ich weiß, welche Sprüche überhaupt nicht ziehen.
Respekt und Toleranz wünscht sich Rachel Monique Seifert.
Was wünschen Sie sich für den Umgang mit Trans-Menschen?
Mehr Akzeptanz und mehr Toleranz – egal, wie die Menschen aussehen! Mädchen haben ihre ganze Pubertät zum Üben, wir nicht. Bei uns sitzt der Lidstrich also nicht gleich perfekt, wenn wir uns entscheiden, offen als Frau zu leben, und das ist in Ordnung so. Jeder soll vor seiner Tür kehren. Und es wäre schön, den Menschen nicht auf seine Transidentität zu reduzieren.
Was geben Sie anderen Menschen aus dem LGBTQ-Spektrum mit für Ihr Berufsleben?
Lasst euch nicht unterkriegen. Es gibt so viele Arschlöcher, aber da steht ihr drüber. Ihr macht das für euch und nicht, um der Gesellschaft zu gefallen. Ich habe für mich erkannt: Zum Zusammenbrechen habe ich keine Zeit – mich zu verstellen habe ich keine Lust.