17 aus 49: Gewinnzahlen für Leipzig
von Simone Liss | 11.02.2022
von Simone Liss | 06.04.2022
Viele Menschen wachsen gerade über sich hinaus. Die Leipziger Straßenbahnfahrerin Yuliya Barthel zum Beispiel. Was es bedeutet, Schutzbedürftige aufzunehmen, erzählt sie hier.
Yuliya (Mitte) und ihre Familie.
„Yultschik“ nennen sie ihre Freunde, „Mama“ ihre Tochter, „Babuschka“ ihre Enkelin. Alle diese Worte sind Liebkosungen. Sie tun Yuliya Oleksandrivna Barthel gerade besonders gut. Denn Yuliya ist momentan viel mehr als Freundin, Mutter und Großmutter – sie hat fünf Familienmitglieder aus der Ukraine aufgenommen: ihre Mutter, ihre beiden Cousinen Tanja und Galja sowie deren Kinder Denis (12) und Sofie (14). Jetzt managt Yuliya neben ihrem Job – sie ist Straßenbahnfahrerin bei den Leipziger Verkehrsbetrieben – Behördengänge, Wohnungssuche, Schulanmeldung, Impftermine, Einkauf – kurzum: das Leben und den Alltag von acht Menschen. Gemeinsam leben sie seit mehr als einem Monat in einer kleinen Wohnung in Probstheida, in der Nähe der Russenstraße. „Ich verstehe die Welt nicht mehr. Unsere Großeltern – Ukrainer und Russen – haben einst Schulter an Schulter gekämpft. Jetzt kämpfen ihre Enkel und Urenkel gegeneinander. Ich bin so erschüttert, so ungläubig, so wenig Willens, diesen Krieg zu begreifen. Unsere momentane Situation ist so surreal. Meine Familie schläft auf dem Fußboden unseres Wohnzimmers. Fünf Menschen müssen von heute auf morgen ein neues Leben in einem fremden Land, mit fremder Sprache beginnen – ohne Not. Sie hatten ein gutes Leben, hatten Arbeit, ihnen ging es gut. Sie waren friedlich, fortschrittlich, frei. Was für ein Irrsinn.“ In ihre sorgenvollen, verängstigten, hoffnungslosen Gesichter zu schauen, fällt Yuliya von Tag zu Tag schwerer.
Als Yuliya vor mehr als 20 Jahren von Smila, einer 70.000-Einwohner-Stadt in der Zentral-Ukraine, nach Deutschland kam, kam sie freiwillig. „Das war eine andere Situation als heute. Damals gab es für junge Menschen in der Ukraine keine Perspektive. Ich hatte eine Marketing-Ausbildung im Industriebereich. Doch um die 2000er Jahre sind in Smila viele Maschinenbau- und Nahrungsmittelbetriebe in die Knie gegangen – ähnlich wie zur Wende in der DDR. Ich bin dann als Au-pair nach Deutschland auf die Insel Fehmarn gekommen, hatte dort Familie und habe nach und nach Deutsch gelernt. Aber ich kann mich noch gut an meine Unsicherheit erinnern – der Sprache nicht mächtig und keinen Plan von nichts. Anfangs habe ich mich sogar im Supermarkt verlaufen, weil ich noch nie so ein großes Lebensmittelgeschäft gesehen hatte. Deshalb berührt mich das auch heute so, wenn ich beobachte, wie vorsichtig meine Familie jetzt Leipzig für sich entdeckt. Meine Cousinen sind Powerfrauen und packen an, was angepackt werden muss. Aber tief in ihrem Inneren ist Unsicherheit – und ich kann das gut verstehen. Diese Stadt ist toll und die Leipziger haben ein großes Herz, aber das muss man erleben, um es zu glauben.“
Auch Yuliya erfährt gerade viel Unterstützung: „Mein Mann – er ist Busfahrer bei den LVB –, mein Teamleiter, Tosten Adler, meine Kollegen, meine Schwiegermutter, ihre Nachbarn, meine Stieftochter Sarah und ihr Mann Manuel, die Klassenlehrerin meiner Tochter, ihre Mitschüler – sie alle geben, was sie können. Das ist großartig! Diese Hilfe gibt mir so viel Kraft und nimmt mir viel Last von den Schultern. Es macht einen Unterschied, ob man für drei oder acht Menschen einkauft. Ob man für ein oder drei Kinder Schulsachen besorgt. Ob man einen oder bald drei Haushalte führt.“ Das Leipziger Maklerunternehmen Grand City Property hat mittlerweile reagiert und Yuliya und ihren beiden Cousinen zwei Zweiraumwohnungen in Grünau angeboten. „Am 31. März haben wir die Mietverträge unterschrieben. Nun müssen wir aber zwei mal zwei Kaltmieten als Kaution stellen und beide Wohnungen einrichten. Ich weiß noch nicht, wie das finanziell gehen soll, aber uns wird etwas einfallen.“ Aufgeben ist für Yuliya ein Fremdwort. „Wir sind unseren Kindern schuldig, stark zu sein.“ Leicht fällt das nicht. „Beide Cousinen haben ihre Männer im stark umkämpften Charkiw zurücklassen müssen, eine von beiden ihren 21-Jährigen Sohn in Lemberg. Das ist hart. Wie soll man ein neues Leben anfangen, wenn man am alten Leben hängt? Wenn die Liebsten zurückgeblieben sind? Wenn man Heimweh hat? Wenn man langsam begreift, dass die Flucht kein Albtraum, keine kurzfristige Auszeit, keine Stippvisite, sondern Realität mit ungewissem Ausgang ist?“
Dank der Leipziger Crowd konnten bereits 100.000 Euro an Hilfe-Vereine ausgezahlt werden.
Um die Not der schutzbedürftigen Menschen aus der Ukraine etwas zu lindern, sammelt die Stadt Leipzig und die Leipziger Gruppe Spenden. Auf www.leipziger-crowd.de/ukraine-hilfe sind bereits mehr als 440.000 Euro (Stand: 28. April) zusammengekommen. Mehr als 2950 Bürger, Vereine, Unternehmen, Institutionen, Kultureinrichtungen haben sich bisher großzügig gezeigt – darunter zuletzt der Automobilclub ADAC, der 5000 Euro gespendet sowie das Backhaus Hennig, das ebenfalls einen Beitrag in Höhe von 5000 Euro geleistet hat. Die erste Tranche aus der Crowd in Höhe von 100.000 Euro ist bereits ausgezahlt worden – zu gleichen Teilen an den Verein Humanitäre Hilfe Leipzig e.V. und an das Sachspendensammelzentrum am Olympiastützpunkt. „Die zweite Tranche wird in dieser Woche ausgeschüttet. 50.000 Euro gehen an den Verein Leipzig helps Ukraine und 5000 Euro an den Verein Die Villa. Der Verein hat spontan Räume, Infrastruktur und Finanzmittel bereitgestellt, um der Gruppe Safespace einen Ort zur Weiterführung der Lebensmittel- und Kleidungsnotversorgung anzubieten, nachdem das A&O Hostel eingestellt wurde“, sagt Peter Krutsch, Sprecher der Leipziger Gruppe.
Anlaufstelle für institutionelle Großspender: Die Kabelhalle der Leipziger Stadtwerke.
Einrichtungsgegenstände und Haushaltwaren für Schutzbedürftige in Leipzig kommen unter anderem im Sammelzentrum Leipzig Nord an. „Wir richten für die Stadt gerade Wohnungen und Kitas für Schutzbedürftige vor“, sagt Stadtwerke-Manager André Kießling, der das Drehkreuz für institutionelle Hilfsgüter organisiert. Von der Kabelhalle der Leipziger Stadtwerke in der Roscherstraße – hier werden unter anderem Lebensmittel, Wasserkanister und medizinisches Equipment umgeschlagen – starten jede Woche zwei bis drei Hilfstransporte Richtung Krakau und Lemberg, aber genauso auch Lieferungen innerhalb Leipzigs, in Richtung Grünau und Mockau. Möglich machen dies viele freiwillige Helfer der Leipziger Gruppe, die neben ihrer Arbeit das Drehkreuz im Norden der Stadt am Laufen halten.
Zu wissen, dass ihr eigenes Unternehmen hinter der Ukraine-Hilfe steht, stärkt Yuliya den Rücken. „An dieser Stelle zeigt sich, wie stark der kommunale Unternehmensverbund und seine Mitarbeiter sind. Gemeinsam kann man wirklich was bewegen – das gilt für eine Familie genauso wie für eine Unternehmensfamilie“, sagt die 43 Jahre alte Straßenbahnfahrerin. Dass ihre ukrainischen Familienmitglieder kostenlos Straßenbahn fahren und gratis den Zoo, das Stadtgeschichtliche Museum und seine Museen, das Theater der Jungen Welt, das Fußballtraining bei BSG Chemie besuchen können, hilft Yuliya auch ganz persönlich weiter: „Wir greifen gerade nach jedem Strohhalm, der uns das Leben etwas erleichtert. Deshalb hoffe ich, dass die Strohhalme stabil sind und einem möglichen Sturm aus Neid und Missgunst standhalten.“
Hier können Sie private Sachspenden abgeben: Olympiastützpunkt, Mo-Fr 12.30 bis 19 Uhr, Sa 9 bis 15.30 oder Kohlrabizirkus, An den Tierkliniken 42, täglich von 7 bis 17 Uhr (Halle S 3/Südhalle)
Das Sammelzentrum Leipzig Nord ist Anlaufpunkt für Unternehmen und Institutionen, die große Mengen Sachspenden haben. Telefonisch erreichbar ist das Sammelzentrum Leipzig Nord unter 0341 121 8030 (wochentags von 8 bis 16 Uhr) sowie per Mail unter Sammelzentrum.Leipzig.Nord.Stadtwerke@L.de. Das Verbindungsbüro befindet sich in einem Bauwagen direkt vor Ort am Standort und ist auch Ansprechpartner für alle Zulieferer und die Logistik ins Krisengebiet.