Von Kohle zu Wasserstoff: Helge Wagner und sein Leben mit dem Kraftwerk
von Peter Krutsch | 26.01.2022
von Peter Krutsch | 10.08.2023
Die Leipziger Skyline verändert sich: Der 170 Meter hohe Schornstein auf dem Stadtwerke-Gelände Leipzig Südost an der Arno-Nitzsche-Straße 35 wird am 10. September (Sonntag) gesprengt.
Das höchste Wahrzeichen der Braunkohle-Ära in Leipzig – der Schlot des ehemaligen Heizwerkes „Max Reimann“ – verschwindet. Für die Leipziger Stadtwerke und ihre Mitarbeiter, die Sprengmeister, die Anlieger und viele Leipziger, die das Relikt der Kohle-Zeit kennen, ein historisches Ereignis.
Absperrplan für den Tag der Sprengung.
Die Stadt Leipzig hat in ihrer Eigenschaft als zuständige Behörde dazu eine Allgemeinverfügung erlassen. Diese regelt den Sperrkreis wie folgt: Am Sprengtag wird um das Gelände der Leipziger Stadtwerke in der Arno-Nitzsche-Straße 35 eine Sperrzone eingerichtet. Der exakte Verlauf ist im Absperrplan (siehe Grafik) dargestellt. Betroffen von dieser Regelung sind die folgenden Grundstücke und dazugehörigen Gebäude:
– Arno-Nitzsche-Straße 29, 31A, 30, 32, 35, 35A und 37
– Köhraer Straße 5, 6, 7, 9 und 14
– Meusdorfer Straße 80
– Threnaer Straße 1, 1A, 2, 3, 5, 7, 9, 11, 12 und 13
– Teile des KGV “Reichsbahn Connewitz” e.V.
– Teile des KGV “Waldidyll” e.V.
Die Sperrzone muss am Sprengtag bis 8 Uhr von allen Personen verlassen werden. Das Betreten des Areals und jeglicher Aufenthalt innerhalb und außerhalb der darin befindlichen Gebäude, ist ab diesem Zeitpunkt bis zum Abschluss der Sprengarbeiten, die durch Erklärung des Sprengverantwortlichen erfolgt, verboten. Das Verbot schließt den Aufenthalt auf sämtlichen Außenflächen sowie öffentlichen Verkehrsflächen wie Straßen, Wegen und Plätzen ein.
Die Fenster müssen wegen der zu erwartenden Staubentwicklung geschlossen bleiben. Soweit vorhanden, müssen Klimaanlagen abgestellt und Rollläden heruntergelassen werden. Das freie Umherlaufen von Haustieren zur Sprengzeit – diese ist zwischen 10 Uhr und 10.30 Uhr geplant – in der Sperrzone soll unterbleiben. Erweiterungen der Sperrzone können bei gefahrenabwehrbedingtem Bedarf nach Festlegung der Einsatzleitung durch die Einsatzkräfte vor Ort erfolgen.
Noch steht er: Blick auf den Schornstein an der Arno-Nitzsche-Straße.
„Mit dem 170-Meter-Riesen verschwindet der größte Schornstein im Leipziger Stadtraum. Gleichzeitig wuchs jetzt im Süden eine neue Sehenswürdigkeit in die Höhe: der 60 Meter hohe Wärmespeicher unseres neuen Heizkraftwerkes Leipzig Süd, das in diesem Jahr ans Netz geht“, sagt Maik Piehler, Geschäftsführer der Leipziger Stadtwerke. „Beide Gebäude haben inhaltlich durchaus miteinander zu tun. Das potenziell wasserstofffähige HKW steht für die Energieversorgung von morgen. Es ist ein zentrales Projekt im Rahmen unseres Zukunftskonzepts Fernwärme: In ganz Leipzig entstehen moderne, umweltfreundliche Anlagen, damit die Energieversorgung sicher und nachhaltig bleibt. Von dem ungenutzten Schornstein und seiner Geschichte verabschieden wir uns.“
Veränderung ist eine Konstante für diesen Standort. Ende des 19. Jahrhunderts entstand hier ein Gaswerk. Es arbeitete auf dem technologischen Höchststand der Gaserzeugung aus Steinkohle. Bis 1910 wurden vier Behälter errichtet, die für die Speicherung von Gas und den Druckausgleich im Rohrnetz sorgten. Die Architekturplanung, inklusive der Hüllen aus Ziegelmauerwerk mit Klinkersteinen, ging auch über den Schreibtisch von Stadtbaudirektor Hugo Licht (1841-1923). Die heute verbreitete Bezeichnung „Gasometer“ bezeichnete ursprünglich nur die weithin sichtbare Messuhr, die den Füllstand des Behälters anzeigte.
2003 fanden die Panorama-Bilder von Yadegar Asisi in einem der Gasometer ihre Leipziger Heimat. Asisis Ausstellungen sind bis heute Besuchermagneten. Nebenan, am kleineren Gasometer, welches nun den Namen „Arena am Panometer“ trägt, finden unter freiem Himmel Theateraufführungen, Feste oder Konzerte statt.
Drei ehemalige Stadtwerker verabschieden sich vom Schornstein: Martin Meigen, Frank Hennig, Peter Koßmagk (von links).
In den 1970er-Jahren hätte davon niemand zu träumen gewagt. Damals endete die Geschichte des „Max Reimann“-Werks als Erzeugungsort für Stadtgas aus Kohle. In den folgenden Jahren wandelte er sich zu einem Standort der Fernwärmeversorgung. In diese Phase fällt auch der Bau des Heizwerkes mit dem 170-Meter-Schornstein. Von 1987 bis 1996 wurden an diesem Ort rund 21 Millionen Tonnen Rohbraunkohle verbrannt, um die Fernwärmeversorgung der Stadt zu gewährleisten.
Einer, der noch von damals berichten kann, ist Ex-Stadtwerker Martin Meigen, der auch in den Bau des Heizwerks „Max Reimann“ involviert war. Jetzt steht er noch einmal hier und erinnert sich: „Am schlimmsten waren die Umweltbedingungen bis 1977 als auf dem Gelände Stadtgas produziert wurde. Kollegen haben mir damals berichtet, dass diese Produktion zu bestimmten Zeiten – beispielsweise wenn die Partei- und Staatsführung der DDR zum Rundgang auf dem nahen Messegelände unterwegs war – wegen der extremen Luftverschmutzung unterbrochen werden musste.“
In den 1970er Jahren suchte Leipzig einen Standort für eine neue Wärme-Erzeugungsanlage. Die Wahl für das neue Heizwerk fiel auf das alte Gaswerksgelände. „Ich hatte an den Vorlagen des Generaldirektors für den Rat des Bezirkes und die SED-Bezirksleitung mitzuwirken“, erzählt Meigen. „Interessant war: Einerseits durfte der Generaldirektor nicht als zu schwach dastehen; andererseits musste er auch laut genug um Hilfe rufen, sonst hätte er hier die Versorgung nicht sichern können. Das war eine Gratwanderung.“
Meigen, gelernter Verfahrenstechniker, war an der Planung des Fernwärme-Verbundsystems beteiligt, in dem das „Max Reimann“-Werk ein wichtiger Baustein war. Das Energiekombinat hatte zuvor für die Versorgung von Grünau auch einen Verfahrenstechniker gesucht. Meigen bekam den Job.
Einer seiner Chefs war Peter Koßmagk, von 1965 bis 2003 für die Stadtwerke tätig, zuletzt Geschäftsbereichsleiter für Technische Dienste. Den Schornstein kennt er bestens, hat ihn sogar einmal bestiegen. „Wir hatten ja mehrere. Einer steht zum Beispiel noch in Kulkwitz. Der Grundstein für den Schornstein hier wurde im Mai 1984 gelegt. Bereits im September war er auf der vollen Höhe. Er hat insofern ein bedauerliches Schicksal, weil seine Betriebszeit die kürzeste war“, so Koßmagk. „Ab Januar 1987 wurde er für die Rauchgasabführung eingesetzt und bereits 1996 kam der letzte Kohle-Zug. Damit hatte er eine Betriebszeit von nur neun Jahren.“
Das Tor ist zu: Schließung der einstigen Gaskokerei „Max Reimann“ am 11. Mai 1977.
Die größte Herausforderung zu DDR-Zeiten sei der Winter gewesen, erinnert sich Koßmagk. Denn die Kraftwerker mussten die sehr wasserhaltige Rohbraunkohle, die als Eisblock in Waggons ankam, aus diesen herausbekommen. „An den Entladestellen haben da auch Verwaltungskräfte mit angepackt.“
Für diese Geschichte trifft Koßmagk nicht nur seinen einstigen Kollegen Meigen vor Ort, sondern auch Frank Hennig. Letzterer war Bereichsleiter Gas und technischer Geschäftsführer der Stadtwerke und von 1992 bis 2005 dabei. Den Schornstein sah er als damaliger Marienbrunner jeden Tag. Heute wohnt er in Taucha.
„Ich habe das Wachsen des Schornsteins unmittelbar erlebt“, sagt Hennig. „Er hat die nahe Umgebung nicht beeinflusst. Bei üblichem Westwind ist alles nach Osten abgezogen. Hinzu kamen Filter und Entschwefelung. Was aber richtig Dreck gemacht hat, war das alte Gaswerk. Es war eine gute Entscheidung 1977, es abzulösen.“
Hennig schätzt noch heute das Engagement der Arbeiter vor Ort bei der Stilllegung des Gaswerks und beim Aufbau des Heizwerks, inklusive Schornstein. „Eine spannende Zeit. Deshalb bin ich auch bei der Sprengung dabei.“
Sprengmeisterin Ulrike Matthes
Mit der Organisation von Sprengungen hat die Firma Reinwald jede Menge Erfahrung. Viele erinnern sich sicher noch an den Fall der Industriehalle im Jahre 2007, die für das Gondwanaland im Zoo weichen musste. Das war die Firma Reinwald. Auch der Rückbau des über 200 Meter hohen Schornsteins der Firma Bell Flavors in Miltitz gehört zu den Referenzen des Unternehmens. Für den Schornstein in Leipzig arbeitet sie mit Thüringer Partnern zusammen.
Ulrike Matthes, Sprengmeisterin der Thüringer Sprenggesellschaft, wird die Sprengung vollstrecken. Oder wie sie es sagt: „Der Schornstein wird durch eine Dreifach-Faltung mit wechselseitig geöffneten Sprengmäulern in Nord-Süd Richtung niedergeführt.“ Rund 100 Kilogramm Sprengstoff setze sie ein, sagt sie. Mit Staub sei zu rechnen, vor allen Dingen bei Trockenheit und Wind. „Deshalb sollten die Anwohner auch über den Sperrkreis hinaus die Fenster schließen, sensible Bebauungen abdecken und Luftansaug-Anlagen abschalten.“
Die Thüringer Experten haben bereits 451 Schornsteine erfolgreich „niedergeführt“. Darunter waren auch die Stahlbeton-Riesen der Kraftwerke Franken II (202 Meter), Gera Süd (120 Meter), Westerholt (300 Meter) und Castrop-Rauxel (230 Meter). Was Matthes‘ anspruchsvollste Sprengung war? „Der Abbruch des zweiten Weißen Riesen in Duisburg“, sagt sie. Wer sich das Video im Internet anschaut, sieht wie vier Teile eines Mega-Blocks mit 320 leeren Wohnungen passgenau nacheinander in sich zusammenfallen. Perfekter „Rückbau“, wie es Experten nennen, in Sekundenschnelle.
Noch steht er, der Schornstein an der Arno-Nitzsche-Straße. Meigen schaut zu ihm auf. Auf die Frage, ob er den Koloss mit Wehmut verabschiede, antwortet er: „Mit ihm verschwindet ein Relikt aus einer Zeit, in der mangels Alternativen die Fernwärmeversorgung vor allem der Neubaugebiete auf Basis von Rohbraunkohle mit starker Umweltbelastung und hohem Arbeitskräfteeinsatz gesichert werden musste. Auch wenn das Heizwerk zu meiner beruflichen Geschichte gehört, trauere ich dem Schornstein nicht nach.“
Hintergrund: Wer war Arno Nitzsche?
Arno Nitzsche, geboren 1897 in Leipzig, Mitglied der KPD, Teilnehmer am Spanischen Bürgerkrieg, 1942 von den Nationalsozialisten zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, wurde nach dem zweiten Weltkrieg Gasmeister in den Zentralgaswerken. Den Straßennamen vergab die Stadt nicht für seinen Kampf gegen den Nationalsozialismus, sondern für seinen Einsatz bei einem Lösch-Unfall. Zu Steinkohlezeiten, als auf dem Gelände noch glühend heißer Koks gelöscht werden musste, wurde dieser auf ein Spezialfahrzeug geschoben und dann unter einen Löschturm mit Wasser gebracht. Nitzsche verunglückte am 19.11.1948 im Gaswerk Süd bei dem Versuch, einen Kollegen bei einem Betriebsunfall zu retten. Er geriet unter den heißen Koks und verstarb zwei Tage später im Krankenhaus Dösen.